Sebastian Haffner: Gedanken zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung 1989/90

#interview #mauerfall #tagderdeutscheneinheit #literatur #kunst #ddr #sozialismus #volkskammer #sed #mielke #honecker #helmutkohl #sowjetunion #nato Interview von Alexander Grass mit dem 82jährigen Sebastian Haffner am 30. September 1990, gesendet vom SRF. 0:01 O-Ton: Stimmen aus dem Volk zum Mauerfall 1989 0:57 Anmoderation 2:28 Welche Ereignisse und welche Prozesse aus den vergangenen 12 Monaten bleiben für die Geschichtsschreibung von Bedeutung? (Pastorenrevolution und Palastrevolution) 4:40 Glauben Sie das dies (Maueröffnung) eine bewusste Entscheidung war? Es gibt ja auch die These, dass es ein Fehler war, das es ein Missverständnis gewesen war. 5:31 Haffner: “An der Mauer hing ja in gewissem Sinne, nicht unbedingt die Existenz, aber die Stabilität der DDR“ 7:40 Sie beschreiben da einen Prozess wie die BRD auf eine sehr indirekte Weise, die Geschicke ihres Gegenübers in der DDR gelenkt hat? 9:06 Sie gebrauchen das Wort “Anschluss“? Das ist doch ein historisch sehr belastetes Wort. 9:15 Haffner: “Es ist sehr vieles in dem jetzigen Prozess, den wir in diesem Jahr staunend miterlebt haben, was an den Anschluss Österreichs im Jahre 1938 erinnert. Außer, dass kein militärischer Einmarsch stattgefunden hat“ 9:50 Haffner: “Aber eine “Vereinigung“ würde ich das, was jetzt passiert, wirklich nicht nennen. Eine Vereinigung von zwei Staaten findet doch so statt, dass beide Staaten noch sichtbar in ein neues Verhältnis zueinander treten. Während hier ist es doch wirklich so, dass nach dem 3. Oktober gibt es die DDR nicht mehr, dann ist sie Bestandteil der Bundesrepublik geworden“ 10:22 Der Anschluss von Österreich an das Großdeutsche Reich damals war ja auch von deutschen Großmachtinteressen inspiriert. Würden Sie diesen Vergleich so weit ziehen oder wie meinen Sie das? 11:40 Haffner: “Also das was jetzt entsteht ist ja nicht das Neue Deutsche Reich, das wiedergegründete Deutsche Reich, sondern es ist die erweiterte Bundesrepublik. [...] Jetzt ist wirklich das Ganze von Deutschen bewohnte Gebiet in der Bundesrepublik vereinigt. Das ist natürlich eines Riesenmacht“ 12:36 Wenn man Argument der “Großmacht Deutschland bringt, wird immer entgegnet, dass 40 Jahre Demokratie in Westdeutschland die Westintegration und auch die Bildung der Europäischen Gemeinschaft Garantien sein sollten, um solche Großmachtgelüste zurückzubinden. Denken Sie, dass diese Garantien genügen? 14:01 Haffner: “Denn mit diesem sehr starken Deutschland in einem vereinigten Europa ist das Gewicht dieses vereinigten Europas stark nach Osten verschoben“ 15:30 Wenn sich die beiden deutschen Staaten zu einem Land vereinen, dann wird ja auch die ganze politische, europäische Ordnung ins Rutschen kommen. Kann man von diesem Prozess vorhersehen, wohin er führt? 16:30 Mit der Auflösung des sozialistischen Blocks wird ja die Grenze zwischen Deutschland und dem Osten Europas eigentlich nicht mehr eine Grenze zwischen zwei ideologischen Weltsystemen, sondern die Grenze zwischen reichen Industriestaaten und armen, östlichen Nachbarn. Was könnte sich daraus entwickeln? 19:14 Haffner: “Aber plötzlich sind die Amerikaner für uns irgendwie für die Bonner Regierung nicht mehr so interessant wie die Russen“ 19:23 Zitat von Gerhard Zwerenz: “Die Teilung zur letzten Probe auf den Nationalcharakter der Deutschen wird zur Prüfung, ob die Deutschen ihre Agressionstriebe zu zügeln und sich selbst zu ertragen vermögen“. 20:52 Was beängstigt Sie denn an der Politik Helmut Kohls? 21:03 Haffner: “Es liegt eine gewisse Rachsucht in der Art wie jetzt die angeschlossene [...] DDR behandelt wird“ 21:40 Die Tatsache, dass jetzt die Bürgerrechtler [...] politisch wieder im abseits stehen. Was bedeutet denn das für die politische Kultur dieses geeinten Deutschland? 22:00 Haffner: “Diese Revolution, diese “Pastorenrevolution“ wie ich sie gerne nenne, das war keine Revolution! Das war eben ein Aufbegehren intellektueller Leute. Mit denen ist kein Staat zu machen. Man braucht heutzutage Massen, wenn man Politik machen will“ 23:14 Ist denn für Sie das vereinte Deutschland ein Land in dem Massenpolitik betrieben wird? Ist das undemokratisch im Kern? 24:09 Haffner: “Dass auch die Demokratie eine Art Tyrannei werden kann. Dass eben NICHT jeder denken kann was er will, sondern jeder muss so denen, wie alle denken! Das st das was ich Massenpolitik nenne!“ 24:22 Kann mit dieser politischen Kultur den befürchteten sozialen Spannungen begegnet werden? 25:17 Sie sprechen von einem destabilisierten, labilen Deutschland? Wie meinen Sie das genau? 26:18 Meinen Sie das aus der heutigen allgemeinen Unzufriedenheit eine politische Bewegung werden könnte? 27:48 Die befürchten, dass da ganz neue Parteien und Konflikte aufbrechen werden? 27:59 Haffner: “Ich bin nicht sicher, ob die BRD dem, was sie sich jetzt mit DDR einbrockt, gewachsen ist. Dass sie den Prozess, der jetzt erst anfängt, unter Kontrolle und ruhig halten kann“
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